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-   -   Quantensprung ohne Zeitverlust? (http://www.quanten.de/forum/showthread.php5?t=2694)

Bauhof 15.01.15 10:50

Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Hallo zusammen,

unter einem "Quantensprung" versteht man den Übergang zwischen zwei quantenmechanischen Zuständen. In der Physik wird der Begriff Quantensprung heute nicht mehr verwendet, man redet nur noch vom Übergang.

Vor der Entdeckung der Quantenmechanik war man davon ausgegangen, dass alle natürlichen Abläufe kontinuierlich seien, aber dann stellte sich heraus, dass manche physikalischen Systeme keine Zwischenzustände annehmen konnten. Der Wechsel zwischen zwei Zuständen erfolgt also ohne Zeitverlust.

Frage:
Wenn ein Atom ein Lichtquant aussendet, weil ein Elektron das "Orbital" gewechselt hat, geschieht dieser Wechsel nach bisheriger Auffassung ohne Zeitverlust. Kennt jemand ein belastbare (deutschsprachige) Quelle, dass beim Wechsel dennoch ein Zeitverlust auftritt?

M.f.G. Eugen Bauhof

Hawkwind 15.01.15 13:40

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zeh scheint dem zu widersprechen in
H. D. Zeh, Physics Letters A172, 189
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/...ntum-jumps.pdf

Zitat:

Zitat von abstract
Abstract: Quantum theory does not require the existence of discontinuities: neither in time (quantum jumps), nor in space (particles), nor in spacetime (quantum events). These apparent discontinuities are readily described objectively by the continuous process of decoherence occurring locally on a very short time scale according to the Schrödinger equation for interacting systems, while the observer’s ‘increase of information’ is appropriately represented by the resulting dynamical decoupling of the corresponding components of the global wave function.

Habe ich leider nur auf Englisch gefunden. Frei übersetzt:
"Die Quantentheorie erfordert nicht das Vorhandensein von Unstetigkeiten: weder zeitlich (Quantensprünge) noch räumlich (Teilchen) noch raumzeitlich (Quanten-Ereignisse). Diese anscheinenden Unstetigkeiten kann man leicht objektiv durch den kontinuierlichen Prozess der Dekohärenz beschreiben, welcher sich lokal auf einer sehr kurzen Zeitskala ereignet, und dies der Schrödingergleichung für wechselwirkende Systeme entsprechend ... ."

Vielleicht will er sagen, dass der Anschein einer Unstetigkeit dann zustande kommt, wenn man die Schrödingergleichung für das Atom ohne externe Wechselwirkungen betrachtet (z.B. das berühmte Wasserstoffatom-Problem der QM). Dann hat man nur ein "vorher" und "nachher". Den Prozess der Abstrahlung eines Photons selbst kann die Schrödingergleichung für das Wasserstoffatom aber nicht wirklich beschreiben, denn sie betrachtet das Wasserstoffatom als abgeschlossenes System.

Gruß,
Uli

----
Nachtrag: hier ein Link auf einen Auszug eines Buches von ihm (deutsch):
https://books.google.de/books?id=ukz...sprung&f=false

Bauhof 15.01.15 15:10

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 76353)
Habe ich leider nur auf Englisch gefunden. Frei übersetzt:
"Die Quantentheorie erfordert nicht das Vorhandensein von Unstetigkeiten: weder zeitlich (Quantensprünge) noch räumlich (Teilchen) noch raumzeitlich (Quanten-Ereignisse). Diese anscheinenden Unstetigkeiten kann man leicht objektiv durch den kontinuierlichen Prozess der Dekohärenz beschreiben, welcher sich lokal auf einer sehr kurzen Zeitskala ereignet, und dies der Schrödingergleichung für wechselwirkende Systeme entsprechend ... ."

Vielleicht will er sagen, dass der Anschein einer Unstetigkeit dann zustande kommt, wenn man die Schrödingergleichung für das Atom ohne externe Wechselwirkungen betrachtet (z.B. das berühmte Wasserstoffatom-Problem der QM). Dann hat man nur ein "vorher" und "nachher". Den Prozess der Abstrahlung eines Photons selbst kann die Schrödingergleichung für das Wasserstoffatom aber nicht wirklich beschreiben, denn sie betrachtet das Wasserstoffatom als abgeschlossenes System.

Gruß,
Uli

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Nachtrag: hier ein Link auf einen Auszug eines Buches von ihm (deutsch):
https://books.google.de/books?id=ukz...sprung&f=false

Hallo Uli,

ich danke dir für diese Hinweise.
Ich habe mal diesen Buchauszug aus [1] extrahiert:
Zitat:

7. Atome verändern ihren Zustand (nur oder gelegentlich) durch diskrete Quantensprünge.

Richtig ist vielmehr: Atomzustände verändern sich stetig gemäß der zeitabhängigen Schrödingergleichung. Falls diese Dynamik auch Wechselwirkungen mit anderen Systemen (wie Messapparaten) oder mit der Umgebung einschließt, kann die Veränderung wegen der Schnelligkeit des Dekohärenzprozesses lokal als spontaner Quantensprung erscheinen.
Dieter Zeh ist manchmal etwas "speziell". Die Frage ist, ob ihm da die Physiker-Gemeinde bei dieser Interpretation folgt?

[1] H. Dieter Zeh
Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?
Berlin 2011

Hawkwind 15.01.15 21:12

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Hi Eugen,

Zitat:

Zitat von Bauhof (Beitrag 76354)
Dieter Zeh ist manchmal etwas "speziell". Die Frage ist, ob ihm da die Physiker-Gemeinde bei dieser Interpretation folgt?

Nun ja, Zehs Artikel ist, wie gesagt, erschienen in Physics Letters; das ist ein hochangesehenes Journal. Was Zeh da schreibt, ist m.E. auch ganz plausibel: man darf erwarten, dass die zeitabhängige Schrödingergleichung im Prinzip die kontinuierliche Entwicklung der Wellenfunktion mit der Zeit bei einem Übergang durch Wechselwirkung mit der Umgebung korrekt beschreibt. Der Übergang von einem Zustand zum anderen geht allerdings so schnell, dass man in der Messapparatur nur Anfangs- oder Endzustand feststellt: es entsteht der Eindruck eines "Sprungs".
Es gibt auch eine Reihe anderer Autoren, die sich in angesehenen Journalen über dieses Thema auslassen.

Gruß,
Uli

TomS 15.01.15 22:40

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zeh hat völlig recht, aber die Zitate geben nicht die ganze Story wieder.

Zunächst mal ist die Zeitentwicklung gemäß des Formalismus der QM stetig; sie wird durch die Schrödingergleichung bzw. einen unitären Operator U(t) = exp(-iHt) beschrieben.

Dabei klammert Zeh bewusst den Kollaps des Zustandes aus: in der QED "mischt" die Zeitentwicklung mittels U(t) den angeregten Zustand |Atom*> mit |Atom, Photon>. Wenn wir ein Photon beobachten, dann ist die Komponente |Atom*> verschwunden und der Zustand in |Atom> kollabiert. Dieser Kollaps ist jedoch nicht Gegenstand des o.g. Formalismus, sondern einer Interpretation der QM.

Gemäß der orthodoxen Interpretation findet ein Kollaps statt; man kann jedoch darüber streuten, was da kollabiert. Z.B. würde eine informationsbasierte Interpretation von einem Kollaps unserer im Zustand kodierten Information sprechen.

Zeh ist jetzt ein Verfechter der Viele-Welten-Interpretation, und er geht von einer kontinuierlichen Verzweigung aus, d.h. alle Komponenten bleiben real, werden jedoch wechselweise unbeobachtbar. Also nach Zeh et al. pberhaupt kein Kollaps.

Struktron 16.01.15 00:01

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 76353)
Zeh scheint dem zu widersprechen in
H. D. Zeh, Physics Letters A172, 189
http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/...ntum-jumps.pdf

...

----
Nachtrag: hier ein Link auf einen Auszug eines Buches von ihm (deutsch):
https://books.google.de/books?id=ukz...sprung&f=false

Das ganze Buch gibt es auch schon kostenlos online.

Vielleicht wäre aber auch ein Blick in die Grundlagen der relativistischen Feldtheorie nützlich. Bei der Beschreibung hat sich wohl die spontane Erzeugung und Vernichtung mit den entsprechenden Leiteroperatoren durchgesetzt (S.280).
MfG
Lothar W.

Hawkwind 16.01.15 12:16

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von TomS (Beitrag 76359)
Zeh hat völlig recht, aber die Zitate geben nicht die ganze Story wieder.

Zunächst mal ist die Zeitentwicklung gemäß des Formalismus der QM stetig; sie wird durch die Schrödingergleichung bzw. einen unitären Operator U(t) = exp(-iHt) beschrieben.

Dabei klammert Zeh bewusst den Kollaps des Zustandes aus: in der QED "mischt" die Zeitentwicklung mittels U(t) den angeregten Zustand |Atom*> mit |Atom, Photon>. Wenn wir ein Photon beobachten, dann ist die Komponente |Atom*> verschwunden und der Zustand in |Atom> kollabiert. Dieser Kollaps ist jedoch nicht Gegenstand des o.g. Formalismus, sondern einer Interpretation der QM. ...

Wieso sprichst du nun vom "Kollaps" (nichtlokaler Zustandsreaktion)?
Führt Zeh (und v.a. Zurek, z.B. http://arxiv.org/abs/quantph/0306072 ) nicht aus, dass bei lokalen Messungen die sehr kurzen Dekohärenz-Zeiten die Einführung eines nichtlokalen Kollaps a la Kopenhagen erübrigen?
Ich meinte, verstanden zu haben, dass dieser interpretative Klimmzug eines Kollaps nur noch bei Messungen an räumlich separierten, verschränkten Systemen gebraucht wird?
... so im Sinne eines Newsletters auf unserer Homepage hier: http://www.quanten.de/schroedingers_katze.html

Gruß,
Uli

Bauhof 16.01.15 13:45

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 76361)
Ich meinte, verstanden zu haben, dass dieser interpretative Klimmzug eines Kollaps nur noch bei Messungen an räumlich separierten, verschränkten Systemen gebraucht wird?
... so im Sinne eines Newsletters auf unserer Homepage hier: http://www.quanten.de/schroedingers_katze.html
Gruß,
Uli

Hallo Uli,

zum Problem mit dem Kollaps der Wellenfunktion erscheinen mir die Ausführungen von Anton Zeilinger plausibel. Er schreibt auf Seite 194 seines Buches [1] folgendes:

Zitat:

Die Annahme, dass sich diese Wahrscheinlichkeitswellen tatsächlich im Raum ausbreiten, ist also nicht notwendig – denn alles, wozu sie dienen, ist das Berechnen von Wahrscheinlichkeiten. Es ist daher viel einfacher und klarer, die Wellenfunktion Psi nicht als etwas Realistisches zu betrachten, das in Raum und Zeit existiert, sondern lediglich als ein mathematisches Hilfsmittel, mit Hilfe dessen man Wahrscheinlichkeiten berechnen kann. Zugespitzt formuliert, wenn wir über ein bestimmtes Experiment nachdenken, befindet sich Psi nicht da draußen in der Welt, sondern nur in unserem Kopf.

[ ]

Es gibt keinerlei Notwendigkeit für die Annahme, dass sich die Wellenfunktion tatsächlich im Raum ausbreitet. Es reicht, sie sich als mentale Konstruktion vorzustellen. Klarerweise hat in dem Moment, in dem wir das Teilchen an einem Ort nachgewiesen haben, die Kugelwelle überhaupt keinen Sinn mehr, denn die Wahrscheinlichkeit, es woanders zu finden, ist dann ja null. Wir haben ja nur ein Teilchen.

Dieser Kollaps der Wellenfunktion ist aber dann nicht etwas, was im wirklichen Raum stattfindet. Sondern er ist eine ganz simple Denknotwendigkeit, da ja die Wellenfunktion nichts anderes ist als unser Hilfsmittel zur Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Und die Wahrscheinlichkeiten ändern sich eben, wenn wir eine Beobachtung durchführen, wenn wir ein Messresultat und damit Information erhalten.
Wenn man akzeptiert, dass die Wellenfunktion Psi von Schrödinger keine physikalische Welle beschreibt wie z.B. eine Wasserwelle, dann kann da auch nichts im physikalischen Sinne kollabieren.

M.f.G. Eugen Bauhof

[1] Zeilinger, Anton
Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik.
München 2003
ISBN=3-406-50281-4

TomS 16.01.15 14:03

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von Hawkwind (Beitrag 76361)
Wieso sprichst du nun vom "Kollaps" (nichtlokaler Zustandsreaktion)?

Führt Zeh (und v.a. Zurek) nicht aus, dass bei lokalen Messungen die sehr kurzen Dekohärenz-Zeiten die Einführung eines nichtlokalen Kollaps a la Kopenhagen erübrigen?

Ich meinte, verstanden zu haben, dass dieser interpretative Klimmzug eines Kollaps nur noch bei Messungen an räumlich separierten, verschränkten Systemen gebraucht wird?

Der Kollaps findet – wenn er denn stattfindet – im Hilbertraum statt; inwiefern dazu eine räumliche Beschreibung existiert, sei dahingestellt; obwohl, na ja, die o.g. Zustände entsprächen näherungsweise Eigenzuständen im Impulsraum, also näherungsweise ebenen Wellen, und die schon nicht-lokal ;-)

Zeh et al. sind teilweise nicht eindeutig bzgl. des Unterschiedes zwischen Dekohärenz einerseits und Kollaps vs. Viele- Welten andererseits.

Dekohärenz bedeutet, dass ein Zustand sich verzweigt, wobei beide Zweige jeweils klassisch „erscheinen“, d.h. nicht mehr interferenzfähig sind und somit wechselweise unbeobachtbar. Dekohärenz ist in Teilen auch aus dem Formalismus ableitbar, also Bestandteil der Theorie, nicht deren Interpretation.

Im Zuge der Dekohärenz verschwindet jedoch keiner der Zweige. D.h. man benötigt weiterhin immer noch entweder den Kollaps, der alle bis auf einen Zweig zum Verschwinden bringt, oder die Viele-Welten-Interpretation, die behauptet, dass die Zweige real weiter existieren, und die darüber hinaus beansprucht, mathematisch beweisbar zeigen zu können, dass die Bornsche Regel ableitbar ist; sie ersetzt also das Kollapspostulat durch ein Theorem.

Struktron 16.01.15 15:52

AW: Quantensprung ohne Zeitverlust?
 
Zitat:

Zitat von Bauhof (Beitrag 76362)
Hallo Uli,

zum Problem mit dem Kollaps der Wellenfunktion erscheinen mir die Ausführungen von Anton Zeilinger plausibel. Er schreibt auf Seite 194 seines Buches [1] folgendes:



Wenn man akzeptiert, dass die Wellenfunktion Psi von Schrödinger keine physikalische Welle beschreibt wie z.B. eine Wasserwelle, dann kann da auch nichts im physikalischen Sinne kollabieren.

[1] Zeilinger, Anton
Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik.
München 2003
ISBN=3-406-50281-4

Auch das gibt es mittlerweile online als .pdf kostenlos. Auf der entsprechenden Seite habe ich allerdings das Zitat nicht gefunden.

MfG
Lothar W.


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