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Joachim 17.04.15 14:59

Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Ich möchte das Thema von Frontalangriff auf die Wissenschaft mal in den Bereich Wissenschaftstheorie holen, wo es meines Erachtens besser passt:

Zitat:

Zitat von TomS
Das Problem ist, dass der Begriff Theorie unsauber verendet wird. Eine physikalische Theorie kann z.B. eine präzise formulierte, etablierte, 'zig-fach überprüfte Theorie ein, Bsp. Quantenmechanik. Oder eben das krasse Gegenteil, Bsp. Stringtheorie. Letzteres sollte "Hypothese" genannt werden.

Es ist genau umgekehrt. Das Problem ist nicht, dass die Stringtheorien keine Theorien sind, sondern das es sich um ein ganzes Bündel von Theorien handelt, die eine Hypothese gemein haben (nämlich dass die Grundstrukturen eine Punktteilchen, sondern Strings sind), aber sich in vielen Klassen von Nebenhypothesen unterscheiden. Das macht es ohne experimentellen Hinweis unmöglich auszusieben, welche Stringtheorie richtig sein kann und welche nicht.

Es gibt natürlich ein paar Kriterien: Stringtheorien mit überlichtschnellen (tachyonischen) Teilchen werden in der Regel gleich verworfen. Und Hypothesen, die auf inkonsistenzen in der Theorie führen können auch gleich verworfen werden. Aber das alles ist für uns Experimentalphysikern natürlich unbefriedigend. Schöner wäre es, eine bestimmte Stringtheorie würde ein Supersymmetrisches Teilchen in einem genau bestimmten Energiebereich vorhersagen und das würde dann durch LHC bestätigt oder verworfen.

Wie gehen wir nun damit um, dass die Stringtheorien das nicht können? Eine Möglichkeit wäre, denen den Geldhahn zuzudrehen und alle Beschäftigung mit Stringtheorien an den Universitäten zu unterbinden. Nicht falsifizierbar → keine Wissenschaft → kein Forschungsgeld.

Das fände ich überzogen und kontroproduktiv, denn Universitäten machen ja auch Lehre. Und wer weiß, vielleicht kommt ja 2028 mal eine Studentin durch die Beschäftigung mit den Stringtheorien genau auf die zündende Idee, die das Standardmodell genau in die richtige Richtung erweitert.

TomS 17.04.15 20:27

Zitat:

Zitat von "TomS
Das Problem ist, dass der Begriff Theorie unsauber verendet wird. Eine physikalische Theorie kann z.B. eine präzise formulierte, etablierte, 'zig-fach überprüfte Theorie ein, Bsp. Quantenmechanik. Oder eben das krasse Gegenteil, Bsp. Stringtheorie. Letzteres sollte "Hypothese" genannt werden.

Zitat:

Zitat von Joachim (Beitrag 76985)
Es ist genau umgekehrt.

Nein ist es nicht. Und zwar deshalb, weil der Begriff "Theorie" in der Physik eine exakt definierte Bedeutung hat. Im Studium lernst du "Mechanik", "Elektrodynamik", "Quantenmechanik", "statistische Mechanik", ..., zusammengefasst unter "theoretische Physik". Eine Theorie ist also eine etablierte, in weiten Bereichen verifizierte Zusammenfassung von Definitionen und Begriffen sowie mathematischen Axiomen, Methoden und Beschreibungen zu deren Anwendung. Eine "Theorie" ist es deswegen, weil der Gültigkeitsbeich nicht universell ist, weil nie ein allgemeingültiger Beweis vorliegen kann, und weil immer die Möglichkeit der Falsifizierung besteht.

Der Vorläufer einer Theorie ist eine Ansammlung von Hypothesen. Und um genau das handelt es sich bei den Strings.

Zitat:

Zitat von Joachim (Beitrag 76985)
... sondern das es sich um ein ganzes Bündel von Theorien handelt, ...

ein Bündel von Hypothesen

Zitat:

Zitat von Joachim (Beitrag 76985)
... die eine Hypothese gemein haben (nämlich dass die Grundstrukturen eine Punktteilchen, sondern Strings sind) ...

jein; in der ggw. Fassung ja, aber es ist unklar, ob das die endgültige Formulierung ist

Der Stringtheorie fehlt ein zentrales Element einer Theorie, nämlich eine präzise mathematische Formulierung. Es gibt keine Menge von Axiomen und Gleichungen, die die Stringtheorie definieren. Gegenbeispiel Quantenmechanik: dort gibt es - je nach Zählung - drei oder vier definierende Axiome, und das war's! Bei der ART würde ich sagen, gibt es zwei Axiome.

Meiner Meinung nach ist "die Stringtheorie" eher soetwas wie "die Eichtheorie", d.h. eine (in diesem Fall noch sehr vage) Sammlung von Konstruktionsprinzipien für Theorien. Z.B. ist auch die "Eichtheorie" ein Konstruktionsprinzip, aus dem die Elektrodynamik, die QED, das Standardmodell, sowie unendlich viele weitere Theorien hervorgehen.

TomS 17.04.15 20:50

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Ich möchte nicht, dass der Stringtheorie der Geldhahn zugedreht wird. Ich möchte lediglich, dass diese Forschungsrichtung sich an etablierte wissenschaftliche Standards hält und selbstkritisch damit umgeht. Das bedeutet offene Punkte kritisch ansprechen und nicht unkritisch wissenschaftliche Standard umdefinieren.

Dabei gibt es zwei Klassen von offenen Problemen, und leider tendiert die Stringtheorie dazu, den Schwerpunkt falsch zu setzen bzw. die Diskussion darüber zu verwässern: die Stringtheorie löst vornehmlich die Probleme (oder sie löst sie auch nicht), die sie selbst generiert, die also aus der Hypothese selbst hervorgehen. Sie löst keine Probleme, die aus der Beschäftigung mit der Natur selbst hervorgehen (zumindest kenne ich kein einziges physikalisches Problem, das die Stringtheorie bisher gelöst hat).

Joachim 18.04.15 18:33

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Ich glaube, wenn wir uns an Wortdefinitionen festhalten, werden wir aneinander vorbeireden. Ich kann mit deiner Definition von Theorie nichts anfangen. Ich habe den Begriff "Theoretische Physik" nicht so verstanden, wie du es hier darstellst. Zumindest in meiner Uni grenzte sich theoretische Physik von Experimentalphysik nicht dadurch ab, dass sich die einen mit Theorien und die anderen mit etwas anderem befassen, sondern dadurch, dass in Theoretischer Physik die mathematischen und philosophischen Grundlagen im Vordergrund stehen und in der Experimentalphysik die Experimente.

Unter einer Theorie verstehe ich jedes Konstrukt, dass den Anspruch erhebt, Phänomene der Natur zu erklären. Wenn eine Theorie außerdem den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu sein, muss sie natürlich weitere Anforderungen erfüllen. Sie darf unter anderem in ihrem Geltungsbereich zu keinen reproduzierbaren Phänomenen im Widerspruch stehen. Sie sollte sich in andere etablierte Theorien einfügen lassen. Und sie sollte auch, mindestens prinzipiell, falsifizierbar sein.

Aber ob eine Theorie all diese Ansprüche erfüllt, lässt sich erst sagen, wenn sie weit genug ausgearbeitet ist. Für Stringtheorien gilt das nicht. Du hast recht, bisher hat noch keine Stringtheorie irgendeine grundlegende Frage beantwortet, die sich aus dem Standardmodell ergibt. Vielleicht ist das auch gar nicht möglich, aber ich glaube, dass es sich das Wissenschaftssystem durchaus leisten kann, auch in diese Richtung zu forschen.

Und ich finde einen Streit darum, ob sich ein Ansatz nun Theorie nennen darf oder nicht, nicht besonders sinnvoll. Ab wann durften sich denn Quantenmechanik und ART Theorie nennen? Oder das Kopernikanische Weltbild? Auch diese Theorien hatten eine Zeit, in der es unklar war, ob sie experimentell brauchbare Ergebnisse liefern.

Joachim 18.04.15 19:12

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Falls das Thema interessiert, möchte ich die Fragestellung lieber etwas umbiegen:

Wie genau sollen wir denn damit umgehen, wenn sich herausstellt, dass das Ende der experimentellen Zugänglichkeit für neue Theorien erreicht ist?

Zitat:

Zitat von TomS
Das bedeutet offene Punkte kritisch ansprechen und nicht unkritisch wissenschaftliche Standard umdefinieren.

Unkritisch möchte ich natürlich auch nicht sein, aber vielleicht lässt es sich in einem bestimmten Energiebereich einfach nicht vermeiden, wissenschaftliche Standards zu ändern. Ich empfinde das Standardmodell der Elementarteilchen als sehr unbefriedigend, weil es zu viele freie Parameter gibt. Würde jetzt eine neue Theorie diese Parameter durch grundlegende Prinzipien festlegen, dann wäre das eine Sensation und diese Theorie würde zu recht gefeiert werden. Sie ist aber nicht mehr oder weniger falsifizierbar als das Standardmodell. Ihr großer Vorteil gegenüber dem Standardmodell wäre ihre Eleganz. Eleganz ist also durchaus ein etablierter wissenschaftlicher Standard.

RoKo 18.04.15 19:18

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Zitat:

Zitat von Joachim (Beitrag 77022)
.. Ab wann durften sich denn Quantenmechanik und ART Theorie nennen? ..

Die Zeitpunkte lassen sich ziemlich eindeutig bestimmen:
Die QM wurde im Zeitraum 1926-1932 zu einer Theorie. Die ART seit ihrer Veröffentlichung eine Theorie.

Strings hingegen sind seit ca. 50 Jahren eine Arbeithypothese.

Joachim 18.04.15 19:19

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Die Frage war eine rhetorische.

TomS 18.04.15 22:34

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Zitat:

Zitat von RoKo (Beitrag 77025)
Die Zeitpunkte lassen sich ziemlich eindeutig bestimmen:
Die QM wurde im Zeitraum 1926-1932 zu einer Theorie. Die ART seit ihrer Veröffentlichung eine Theorie.

Strings hingegen sind seit ca. 50 Jahren eine Arbeithypothese.

Genau!

Der wesentliche Punkt ist, dass die QM ab diesen Zeitpunkt (ein bisschen später, denn Dirac und von Neumann haben eine gewisse mathematische Strenge beigetragen) in einer Form vorlag, zu der man sagen konnte das ist die Formulierung der Theorie und das sind die Schlussfolgerungen bzgl. physikalischer Problemstellungen

Plankton 18.04.15 23:50

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Zitat:

Zitat von Joachim (Beitrag 77024)
...
Wie genau sollen wir denn damit umgehen, wenn sich herausstellt, dass das Ende der experimentellen Zugänglichkeit für neue Theorien erreicht ist?
...

Wir sollten jeden der das behauptet unserem Gott opfern.... :D

Joachim 19.04.15 09:01

AW: Theorien und der Umgang mit fehlender experimenteller Bestätigung
 
Zitat:

Zitat von Plankton (Beitrag 77031)
Wir sollten jeden der das behauptet unserem Gott opfern.... :D

ja, Ketzereien konnte ich schon immer besonders gut. :p

Ernsthaft: Ich glaube dass auch Experimentell noch etwas Luft ist. Warten wir mal ab, was bei den höchsten Energien vom LHC herauskommt. Außerdem kann die Astro-Teichenphysik noch einiges bei höheren Energien finden. Kosmische Teilchen erreichen deutlich höhere Energien als ein Beschleuniger erzeugen kann. Leider mit sehr geringen Raten. Auch da lässt sich mit guten Detektoren noch viel erforschen.

Aber von der Planck-Skala ist das alles so weit weg, dass ich mir im Moment nicht vorstellen kann, wie sie jemals erreicht werden soll.

Gruß,
Joachim


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