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Alt 10.07.20, 10:22
Ich Ich ist offline
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Standard AW: Apocalypse Never

So, und schon bin ich durch mit dem Buch.

Ich war etwas überrascht. Ich hatte einen auf Klimawandel / -aktivismus fokussierten, wissenschaftlich gehaltenen Text erwartet. Das Buch ist aber eine volle Breitseite gegen apokalyptischen Aktivismus, mit einer Vielzahl von Themen. Es gibt ein Kapitel über Folgen des Klimawandels, eins über Plastikmüll, über Walfang, Ernährung, Sweatshops, Energieversorgung, über Lobbyismus und Endzeitpsychologie und noch mehr.
Zu diesen Themen hat Shellenberger interessante Fakten und auch Einsichten beizutragen, von daher ist diese Breite nicht schlecht. Andererseits brummt mir nach der Lektüre der Schädel, und ich kann kaum zusammenfassen, was die für mich wichtigsten Punkte waren. Das ist von Nachteil, so unfokussierte Eindrücke verlieren sich schnell wieder, und in einem Jahr könnte ich wohl kaum noch erzählen, wovon das Buch handelt.

Shellenberger hält seinen Text größtenteils tatsächlich wissenschaftlich: Fast jede Aussage ist mit geeigneten Zitaten belegt, was von unschätzbarem Wert ist. Gefühlt kommt auf drei Sätze eine Fußnote, und man erfährt eine Fülle wissenswerter Fakten. Aber man merkt deutlich, dass das Buch von einem Aktivisten geschrieben wurde, nicht von einem Wissenschaftler. Da gibt es auch Stellen, wo ebenfalls starke Aussagen - oder sollte man hier besser sagen: Meinungen - gänzlich ohne Belege kommen.
Ein Beispiel dafür ist sein Steckenpferd, die Kernenergie. Im Kapitel 8 legt er dar, dass ausschließlich Atomkraft in der Lage ist, Klimaschutz und die Bekämpfung von Armut zu vereinen. Weder hat er für diese Meinung Belege (was bei einer Meinung zugegebenermaßen auch kaum möglich ist), noch begründet er sie stichhaltig mit einer klaren Argumentation, ausgehend von belegbaren Fakten. Mir erschien seine Meinung erst in den nachfolgenden Kapiteln begründeter, in denen er die Nachteile erneuerbarer Energien etwas besser benennt. Aber für so ein überaus emotionales Kernthema (pun intended) hätte ich mir eine sorgfältigere Argumentation gewünscht.

Shellenberger ist Herzblutaktivist: Er nimmt kein Blatt vor den Mund, ist undiplomatisch und schießt hier und auch etwas über das Ziel hinaus. Das hat Nachteile, vor allem einen: Er erreicht die Leute nicht, die dieses Buch am dringendsten lesen sollten. Jeder tut sich schwer, "inconvenient truths" zu schlucken, und wenn die auch noch provokativ und ohne Blumen serviert werden, wird man alles tun, sich nicht damit zu beschäftigen.
[Zynismus] Ein weiterer Nachteil: Er liefert die Rationalisierungen, warum man das Buch nicht lesen wird, frei Haus mit. Er ist jetzt einer von den Bösen, und da gelten andere Regeln als für die guten Aktivisten, das hat er noch nicht verinnerlicht. Letztere werfen lautstark, ungezielt und vehement mit Schmutz, und wenn irgendwas hängenbleibt oder sie ins Fernsehen kommen, haben sie gewonnen. Auch wenn keine einzige der Behauptungen der Wahrheit entspricht, rechnet man ihnen hoch an, "auf Missstände aufmerksam" gemacht und "etwas bewegt" zu haben. Auf der dunklen Seite ist das anders: Eine Ungenauigkeit in der Formulierung, eine nicht ausreichend begründete emotionale Aussage, und man ist ein Wirrkopf, dessen Person es zu bekämpfen und dessen Aussagen es getrost zu ignorieren gilt. Shellenberger exponiert sich da viel zu stark, und mich wundert es, dass er trotzdem so deutliche Unterstützung von wissenschaftlicher Seite bekommen hat. [/Zynismus]

Was sind die kontroversen Kernaussagen des Buchs? Ich habe man ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit exzerpiert.

- Der Klimawandel ist real, aber die verfügbare Wissenschaft (hier wird oft IPCC zitiert) unterstützt die apokalyptischen Warnungen vor seinen Folgen nicht.
- Die wahrscheinlichste Folge des Klimawandels: Business as usual. Steigender Wohlstand, steigende Ernteerträge, weniger Opfer von Naturgewalten. Wenn man alle Klimaziele reißt, kann es aber auch erheblich ungemütlicher werden.
- Energiedichte ist wichtig. Mit z.B. Biomasse kann man keine 8 Mrd Menschen in Wohlstand halten. Das ist nicht nachhaltig. Auch Wasser- und Windkraft haben deswegen negative ökologische Folgen und können nur einen Teil des Energiebedarfs decken. Das Speicherproblem ist nach wie vor komplett ungelöst.
- Kernenergie ist eine (die einzige) sichere, kostengünstige und klimaneutrale Quelle mit hoher Energiedichte.
- Auch Landwirtschaft funktioniert nur intensiv, wenn sie mit vertretbaren ökologischen Schäden eine wohlhabende Menschheit ernähren soll. "Naturnaher" Ackerbau braucht zu viel Platz und Arbeitskräfte.
- Es ist ist nicht sozial verwerflich, Waren aus Billiglohnländern zu kaufen.

Ob die Aussagen ausreichend mit belastbaren Fakten gestützt sind, mögen diejenigen für sich beurteilen, die das Buch doch lesen. Aber eines kann ich garantieren: Wer glaubt, dass der Autor komplett falsch liegt und deswegen das Buch nicht liest, macht einen großen Fehler.
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