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Alt 03.04.18, 09:49
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TomS TomS ist offline
Singularität
 
Registriert seit: 04.10.2014
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Standard AW: Gedanken zum Thema "Multiversum"

Zum Thema Multiversum muss man einige grundverschiedene Argumente auseinanderhalten:


Zum Ersten gibt es Theorien, die rein mathematisch vorhersagen, dass es dieses Multiversum geben kann. Dies trifft insbs. auf diverse inflationäre Szenarien zu, in denen die Entstehung eines Universums aus einer Quantenfluktuation möglich ist.

Diese inflationären Szenarien können jedoch keinesfalls als gesicherte Erkenntnis gelten! Zum einen ist heute noch nicht klar, ob und wie geeignete Bedingungen dafür entstehen: benötigt man ein eigenes Inflatonfeld mit passenden Eigenschaften? ist ein "normales" Skalarfeld wie das Higgsfeld ausreichend? existieren andere Szenarien, in denen die Inflation ohne besondere "Zutaten" auskommt (Loop Quantum Cosmology).

Die Tatsache, dass wir heute diverse Beobachtungen (Flachheit, thermisches Gleichgewicht und Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung ...) machen, die aus inflationären Szenarien abgeleitet werden können, ist als Sammlung (starker) Indizien, nicht jedoch als Beweis zu werten; dazu sind m.E. noch zu viele Fragen offen.

(Und auch wenn Paul Steinhardt eher isoliert dasteht hat, so er doch recht, dass die Inflation einige Fragen nicht beantworten kann, und dass evtl. alternative Theorien denkbar sind)


Zum Zweiten ist der Schluss von der Wirkung auf die Ursache grundsätzlich kritisch zu sehen, insbs. wenn dabei zu viele Annahmen ins Spiel kommen. Dies trifft vor allem auf diverse Varianten des anthropischen Prinzips zu, denenzufolge die Tatsache, dass wir in einem "passenden" Universum leben, gerade nicht daraus folgt, dass ein einziges Universum mit für uns passenden Bedingungen entstanden ist - sog. fine-tuning - sondern daraus, dass wir - aus der unendlichen Population zulässiger und im Zuge der Inflation entstehender Universen - gerade in dem Universum leben, in dem wir leben können. Letztlich ist das eine Erklärung ähnlich der Selektion im Zuge der Evolution.

Dabei müssen wir jedoch berücksichtigen, dass wir - im Gegensatz zur Evolution - keinen fundamentalen Mechanismus kennen, der im Zuge der Inflation eine Variation diverser Naturkonstanten einschließlich der kosmologischen Konstanten erzeugen kann!

Nochmal: Die Annahme, dass die Naturkonstanten im Zuge der Inflation = bei der Entstehung eines neuen Universums tatsächlich variieren können, ist keinesfalls gesicherte Erkenntniss sondern eine heute unbewiesene Hypothese!

Wir kennen heute das "Wesen" diverser Naturkonstanten - ca. 20 im Rahmen des Standardmodells der Elementarteilchen, weitere wie die Newtonsche Gravitationskonstante, die kosmologische Konstante sowie theoretisch unendlich viele weitere rein gravitative Kopplungskonstanten - nicht. Wenn wir jedoch das Wesen dieser Naturkonstanten nicht kennen, so können wir erst rechts nichts über den Prozess der Variation derselben sagen.

Das anthropische Prinzip hängt also gewissermaßen in der Luft. Im Falle der Evolution verhält sich dies anders, hier haben wir nämlich eine gesicherte mikroskopische Basis, die DNA.

(Last nur not least hat die Inflation noch einige elementare Probleme: so ist z.B. die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Sorte Universum in der Population aller Universen zu finden, bis heute nicht berechenbar. Hawking's letztes Paper hatte genau dies zum Thema. Das Ergebnis ist nicht unumstritten)


Zum Dritten muss man natürlich die einzige bekannte Theorie betrachten, in deren Rahmen möglicherweise eine Erklärung für einige der o.g. offenen Punkte zu finden ist, nämlich die Stringtheorie. Sie liefert tatsächlich eine Erklärung für das Wesen der Naturkonstanten sowie deren mögliche Variation im Zuge der Inflation, nämlich Phasenübergänge sowie das Ausfrieren von Feldern in diversen Vakuumlösungen, wobei der Wert der Felder letztlich die Kopplungskonstanten erklärt (wobei die Stringtheorie m.W.n. immer noch ein Problem mit der heute beobachteten deSitter-Geometrie im Falle einer positiven kosmologischen Konstante hat).

D.h. jedoch, dass man das anthropische Prinzip auf der Hypothese der Stringtheorie aufbaut. Damit beißt sich die Katze - rein logisch - teilweise in den Schwanz, denn man macht aus der fehlenden Vorhersagekraft der Stringtheorie sozusagen eine Tugend, indem man die theoretisch denkbare Existenz aller zulässigen Universen als tatsächlich reale Existenz aller zulässigen Universen (genauer: das unendlich häufige Auftreten jedes einzelnen zulässigen Universums) akzeptiert und damit das anthropische Prinzip erklärt.

Man vergleiche wieder mit der Evolution: diese verlangt keineswegs, dass ich zunächst die reale Existenz aller theoretisch zulässigen Populationen aller Lebewesen bzw. aller biochemisch möglichen DNA-Sequenzen akzeptiere, um damit die Existenz genau einer Art zu erklären.


Zum Vierten sollte nochmal klargestellt werden, dass keine der zuvor genannten Hypothesen in irgendeiner Form heute experimentell überprüfbar ist oder gar tatsächlich experimentell bestätigt wurde.

Im Rahmen der ART gab es zwei Nobelpreise für den Nachweis von Gravitationswellen, einen für den indirekten und einen für den direkten. In der Elementarteilchenphysik gab es mehrere Nobelpreise zur elektroschwachen Wechselwirkung, insbs. einen für deren theoretische Formulierung sowie einen für den direkten Nachweis der W- und Z-Bosonen; der Preis für die theoretische Formulierung wurde erst ca. sechs Jahre nach dem indirekten Nachweis der Z-Bosonen verliehen.

Offensichtlich legt die Community also Wert auf wissenschaftliche Seriosität. Demzufolge halte ich es für angebracht, den Enthusiasmus etwas zu dämpfen, und statt auf die angeblich so großen Erklärungskraft sowie die Marketing-Maschinen - von Hawking (*) in Cambridge, diverse in Princeton etc. - eher auf die logischen Brüche und offenen Fragen zu fokussieren.

(*) ich denke, diese kritische Anmerkungen ist erlaubt und schmälert keinesfalls sein großartiges wissenschaftliches Gesamtwerk.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.

Ge?ndert von TomS (03.04.18 um 10:49 Uhr)
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