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Wissenschaftstheorie und Interpretationen der Physik Runder Tisch für Physiker, Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker

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  #1  
Alt 19.06.15, 18:24
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Standard Gibt es eine Quantenwelt?

Hallo zusammen,

Shimon Malin schreibt auf Seite 86 seines Buches [1] folgendes:

Zitat:
Bohr erkennt an, dass der Mensch ein Bedürfnis nach einer Beschreibung hat, ein Bedürfnis danach, »die richtigen Worte« zu finden. Indem er darauf hinweist, dass die Beschreibung eines isolierten Systems »abstrakt« ist, distanziert er sich jedoch von der ontologischen Vorstellung, nach der eine solche Beschreibung ein konkretes Abbild der wirklichen Natur darstellt.

»Es gibt keine Quantenwelt«, so behauptete Bohr. »Es gibt nur eine abstrakte Quantenbeschreibung.«
Ist das auch heute noch die Auffassung der Mehrzahl der Physiker, dass es keine 'Quantenwelt’'gibt, sondern nur eine abstrakte Quantenbeschreibung? Oder sind die Physiker wieder zu einer ontologischen Vorstellung der 'Quantenwelt' im Sinne von Schrödinger und Einstein zurückgekehrt?

[1] Malin, Shimon
Dr. Bertlmanns Socken.
Wie die Quantenphysik unser Weltbild verändert.
Leipzig 2003. ISBN=3-379-00809-5
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Ach der Einstein, der schwänzte immer die Vorlesungen –
ihm hatte ich das gar nicht zugetraut!

Hermann Minkowski
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  #2  
Alt 19.06.15, 21:59
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Das ist ein weites Feld.

Es reicht von den "Ontologen", die die Everett-Interpretation vertreten, über die Positivisten, die nur an Aussagen über beobachtbare Phänomene interessiert sind, bis hin zu den Anhängern der statistischen Ensemble-Interpretation, die grundsätzlich keine Aussagen übe einzelne Ereignisse zulassen und lediglich das Ensemble betrachten.
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Niels Bohr brainwashed a whole generation of theorists into thinking that the job (interpreting quantum theory) was done 50 years ago.
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  #3  
Alt 20.06.15, 09:42
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von TomS Beitrag anzeigen
Das ist ein weites Feld.
Es reicht von den "Ontologen", die die Everett-Interpretation vertreten, über die Positivisten, die nur an Aussagen über beobachtbare Phänomene interessiert sind, bis hin zu den Anhängern der statistischen Ensemble-Interpretation, die grundsätzlich keine Aussagen übe einzelne Ereignisse zulassen und lediglich das Ensemble betrachten.
Hallo TomS,

ich denke, mit den Positivisten und den Anhängern der statistischen Ensemble-Interpretation hätten sich die frühen Quantenmechaniker Bohr, Born, Heisenberg und viele andere anfreunden können.

Nicht aber mit den "Ontologen", die die Everett-Interpretation vertreten.

M.f.G. Eugen Bauhof
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Hermann Minkowski
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  #4  
Alt 20.06.15, 10:05
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Da hast du wohl recht.

Allerdings gibt es mehrere Einwände:

1) Der positivistische Standpunkt ist unbefriedigend, wenn man nach einer Erklärung für die Isomorphie zwischen Phänomen und Theorie sucht.
2) Die Ensemble-Interpretation scheitert, wenn man die QM im Rahmen der Quantengravitation auf das Universum als Ganzes anwenden möchte (es gibt nämlich nur eines ;-)
3) Die Everett-Interpretation ist zwar ontologisch "reicher", dafür jedoch axiomatisch einfacher, und daher gemäß Ockham eigtl. zu bevorzugen.

U.a. deswegen hat die Everett-Interpretation heute sehr viele Anhänger.
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  #5  
Alt 20.06.15, 10:29
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von TomS Beitrag anzeigen
U.a. deswegen hat die Everett-Interpretation heute sehr viele Anhänger.
Hallo TomS,

das glaube ich nicht. Ich habe viele Bücher namhafter Autoren (auch angloamerikanische) gelesen, aber die meisten dieser Autoren lehnen die Everett-Interpretation ab. Kannst du mir wenigstens zwei (deutschsprachige) Bücher namhafter Autoren nennen, die die Everett-Interpretation voll akzeptieren?

M.f.G. Eugen Bauhof
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Hermann Minkowski
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  #6  
Alt 20.06.15, 10:41
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von Bauhof Beitrag anzeigen
Hallo TomS,

das glaube ich nicht. Ich habe viele Bücher namhafter Autoren (auch angloamerikanische) gelesen, aber die meisten dieser Autoren lehnen die Everett-Interpretation ab. Kannst du mir wenigstens zwei (deutschsprachige) Bücher namhafter Autoren nennen, die die Everett-Interpretation voll akzeptieren?

M.f.G. Eugen Bauhof
Meinst du Fachbücher oder populärwissenschaftlich?

Warum deutschsprachig und namhaft? Namhaft sollte reichen, oder?

Zu deutscher Literatur: es gibt sowohl einzelne Artikel (Webseite) als auch ein Buch (Zusammenfassung der Artikel) von Dieter Zeh, der im Umfeld Dekohärenz und Everettsche Interpretation maßgebliche Beiträge geleistet hat.

Für weitere Literatur siehe hier:

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Viel...ation#Weblinks
https://en.m.wikipedia.org/wiki/Many...retation#Notes
http://plato.stanford.edu/entries/qm-manyworlds/#Bib

Namhafte Autoren wären deWitt, Wheeler, Zeh, Zurek, Deutsch, Carroll, Wallace.

Zu Büchern siehe unter anderem

http://www.amazon.com/Many-Worlds-Ev...ce+many+worlds
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Ge?ndert von TomS (20.06.15 um 11:00 Uhr)
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  #7  
Alt 22.06.15, 17:34
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von TomS Beitrag anzeigen
Zu deutscher Literatur: es gibt sowohl einzelne Artikel (Webseite) als auch ein Buch (Zusammenfassung der Artikel) von Dieter Zeh, der im Umfeld Dekohärenz und Everettsche Interpretation maßgebliche Beiträge geleistet hat.
Hallo TomS,

Dieter Zeh ist wohl einer der Wenigen, der die Viele-Welten-Interpretation akzeptiert. Ich denke, der wissenschaftstheoretische Hauptgrund, warum die Viele-Welten-Interpretation abzulehnen ist, ist die Tatsache, dass aus ihr keine neuen Erkenntnisse folgen. Anton Zeilinger formuliert dies in seinem Buch [1] auf Seite 152 wie folgt:

Zitat:
Die Viele-Welten-Interpretation löst also keines der Interpretationsprobleme, die wir haben. Insbesondere erklärt sie uns nicht, warum das eigene Bewusstsein, das wir in diesem einen Universum haben, gerade die von uns beobachtete Abfolge der Ereignisse sieht.

Ob die Katze nun als tot oder lebendig beobachtet wird, ist eben auch in der Viele-Welten-Interpretation nur rein zufällig, und es hilft uns absolut nichts, zu wissen, dass es angeblich andere Universen gibt, wo die Katze in anderen Zuständen beobachtet wird. Ein weiteres Problem der Viele-Welten-Interpretation ist, dass sie zu nichts Neuem führt. Es gibt keine physikalischen Ansätze, die ohne die Viele-Welten-Interpretation nicht auch möglich wären. Wozu also in den sauren Apfel beißen?
M.f.G. Eugen Bauhof

[1] Zeilinger, Anton
Einsteins Schleier.
Die neue Welt der Quantenphysik.
München 2003. ISBN=3-406-50281-4
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Hermann Minkowski
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  #8  
Alt 22.06.15, 21:47
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von Bauhof Beitrag anzeigen
Dieter Zeh ist wohl einer der Wenigen, der die Viele-Welten-Interpretation akzeptiert.
Das ist nicht richtig. Eine recht große Zahl an Physikern befürwortet inzwischen die VWI (wobei keine statistisch zuverlässigen Werte vorliegen).

Die Liste der Befürworter oder Kollegen, die damit liebäugeln, liest sich teilweise wie ein who-is-who der theoretischen Physik: deWitt, Wheeler, Zeh, Zurek, Deutsch, Carroll, Hartle (in etwa), Hawking und Weinberg (in gewisser Weise). An deutschsprachigen Autoren fällt mir noch Claus Kiefer ein.

Zitat:
Zitat von Bauhof Beitrag anzeigen
... der wissenschaftstheoretische Hauptgrund, warum die Viele-Welten-Interpretation abzulehnen ist, ist die Tatsache, dass aus ihr keine neuen Erkenntnisse folgen.
Wenn zwei Axiomensysteme vergleichbare Ergebnisse liefern, dann ist gemäß Ockhams Razor das einfachere zu bevorzugen (Ockhams Razor bezieht sich auf die Einfachheit der Grundannahmen, nicht auf die der Schlussfolgerungen). Demzufolge ist die Viele-Welten-Interpretation zu bevorzugen, da sie im Gegensatz zur orthodoxen Interpretation auf ein Axiom (das Kollapspostulat) verzichtet. Und sie ist die einzig mögliche realistische Interpretation (die Kollapsinterpretation kann nicht vollständig realistisch sein, da sie ansonsten mathematisch inkonsistent wäre; Kollapspostulat plus unitäre Zeitentwicklung sind widersprüchlich). Das Argument kann also gegen Zeilinger gewendet werden.

Es gibt gute Gründe, die MWI zu kritisieren. Schade, dass auch namhafte Autoren so oft die schlechten anführen.


EDIT: Ich habe gerade mal den deutschen Wikipediaartikel durchgelesen; er ist als Einstieg gar nicht schlecht, wenn auch etwas langatmig.

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Viel...Interpretation
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Ge?ndert von TomS (23.06.15 um 06:04 Uhr)
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  #9  
Alt 23.06.15, 09:25
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von TomS Beitrag anzeigen
Wenn zwei Axiomensysteme vergleichbare Ergebnisse liefern, dann ist gemäß Ockhams Razor das einfachere zu bevorzugen
Wenn wir die Einfachheit darin sehen, daß die Wellenfunktion nicht mehr als ein mathematisches Konstrukt und damit kein Ding ist, sind wir bei Zeilinger und die VWI erübrigt sich gemäß Ockhams razor.

KI und VWI sind schließlich Interpretationen, deshalb hat keine der beiden den Alleinanspruch auf Ockhams razor. Wahr ist aber, daß die KI die beobachtbaren Phänomene mit hoher Präzision beschreibt und darauf beschränkt die VWI überflüssig ist.

Aus Deinem link:

Zitat:
Carl Friedrich von Weizsäcker weist darauf hin,[23] dass kein nennenswerter Unterschied zwischen der VWI und der Kopenhagener Interpretation im Rahmen einer Modallogik zeitlicher Aussagen bestehe, wenn rein semantisch „wirkliche Welten“ durch „mögliche Welten“ ersetzt werde: die vielen Welten beschreiben den sich durch die Schröderingergleichung entwickelnden Möglichkeitsraum; die von einem realen Beobachter gemachte Beobachtung ist die Realisierung einer der formal möglichen Welten. V.
Stimmst Du dem zu?
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Der Verstand schafft die Wahrheit nicht, sondern er findet sie vor - Aurelius Augustinus
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  #10  
Alt 23.06.15, 10:12
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TomS TomS ist offline
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Standard AW: Gibt es eine Quantenwelt?

Zitat:
Zitat von Timm Beitrag anzeigen
Wenn wir die Einfachheit darin sehen, daß die Wellenfunktion nicht mehr als ein mathematisches Konstrukt und damit kein Ding ist, sind wir bei Zeilinger und die VWI erübrigt sich gemäß Ockhams razor.

KI und VWI sind schließlich Interpretationen, deshalb hat keine der beiden den Alleinanspruch auf Ockhams razor. Wahr ist aber, daß die KI die beobachtbaren Phänomene mit hoher Präzision beschreibt und darauf beschränkt die VWI überflüssig ist.

Stimmst Du dem zu?
Die Wellenfunktion ist ein mathematisches Konstrukt. Die Frage ist, warum sie die Realität beschreibt. Eine Möglichkeit ist die einer Art Isomorphie zwischen Theorie und Realität (führt zur VWI). Eine andere Möglichkeit ist, diese Entsprechung aufzugeben; die dann unbeantwortete Frage ist, dass wenn keine Isomorphie besteht, warum die QM trotzdem die Realität korrekt beschreibt.

Ich halte diese ganze positivistische Philosophie für Vogel-Stauß-Philosophie.

Unabhängig davon kann die Kollapsinterpretation nicht erklären, was eine Messung ist und wann ein Kollaps eintritt (und wann nicht). Und die Kollapsinterpretation benötigt immer ein Axiom mehr, nämlich das Kollapspostulat bzw. die Bornsche Regel.

Weizsäcker hat m.E. nicht recht, denn wenn er einen Möglichkeitsraum betrachtet, der durch die QM beschrieben wird, aus dem jedoch genau eine Wirklichkeit hervorgeht, dann benötigt er letztlich doch etwas wie einen Kollaps, wenn nämlich genau eine Möglichkeit zur Wirklichkeit wird. (er gibt damit die o.g. Isomorphie auf).
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Ge?ndert von TomS (23.06.15 um 10:14 Uhr)
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